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Proömium

Da LONG DISTANCE CALLING (LDC) den Rezipienten für gewöhnlich stimmlich selber anschweigen, sollte ein Review über ein Werk der Band auch nicht mehr als nur die Note beinhalten. Das muss total ausreichen für die Band. ;-)

Gerade die instrumentalen Kompositionen wirken von je her assoziativ, entweder affirmiert man unabhängig oder man lässt sich lenken – dazu später mehr. Aus diesem Grund will ich trotzdem was dazu schreiben. Nicht wundern, wenn es zwischen den Zeilen und Buchstaben knirscht. Ich befinde mich gerade in einer Wüstenregion Vorderasiens, fußläufig ca. 1.102 h für bummelig 5.465 km, mit dem Auto – je nach Route – ca. 73 h bei 5.877 km oder 75 h bei 6.727 km von zu Hause entfernt. Wie gut, dass ich fliegen darf. 

LDC waren mir bis Ende 2013 unbekannt – auch weil ich in der Kategorie U-Musik intrumentale Arragements überwiegend nicht konsumiere. In der E-Musik favorisiere ich es übrigens. Ausnahmen in der U-Musik sind die Gitarristen Michael Hedges, Dominic Miller, Greg Koch. Ich mag es nicht, wenn bei instrumentalen Arrangements einem Solisten nur eine Plattform geboten wird zur Selbstverwirklichung und -darstellung. Ich nenne keine Namen. Der Beitrag der Instrumente muss dem Song dienen.

Aus 2013 aus Bayern ins Münsterland umgezogen brauchte ich für eine meiner Gitarren fachmännische Wartung, da es zum alten Gitarrentechniker in München einfach zu weit war. Mir wurde ein junger Brille-tragender Mann mit langen schwarzen Haaren und Vollbart empfohlen, der zudem auch als Meister des Nachklangs bekannt ist. Betrachtet man es genauer, wäre nicht der Nachklang namensgebend, sondern das Echo in seinem Ton. Aber Dave Delay hätte sicher immer Fragen nach dem Bruder Jan aufgeworfen. Ich wusste zwar sehr bald, dass er in einer Band Mucke macht, vertieft habe ich das nicht wirklich. Meine Auseinandersetzung mit LDC erfolgte 2016 mit dem Album Trips. Dies ist in der Diskograhie der Band eher untypisch, da der eigene USP instrumentale Lieder ist. Auf Trips wird viel gesungen. 2018 gesellte sich das Album Boundless dazu, Ende 2019 die Liveproduktion Stummfilm.

Hauptteil

How Do We Want To Live?, fragt es vom Cover. Stimmlich still ist die Platte nicht. Häufiges Stilmittel der Lieder sind rezitative Beiträge. Ein Lied (Beyond Your Limits) featured einen Sänger (Eric A. Pulverich von der Band KYLES TOLONE), ein anderes Lied (Voices) erweckt den Eindruck einer flirrenden Stimme, die das Stück begleitet.

Ich schiebe doch schon mal was vor: LDC werden des öfteren mit PINK FLOYD verglichen. Sicherlich warten PINK FLOYD auch mit sphärischen Stimmungen auf, jedoch sind sie in ihren Liedern eine um die Gitarre David Gilmours arbeitende Band, die auch über die Lyrics arbeiten will. Das ist bei LDC eben nicht so. Sie haben die Gabe oder/und das Talent, über ihre Arrangements die persönliche und individuelle Suggestionskraft anzuregen, un im Geiste Affirmationen zur Musik zu bedingen. Jedoch: Durch Titelnamen (inkl. dem Albumtitel) wie auch die rezitativen Elemente oder der richtige Gesang mit seinem Text wird dem Rezipienten eine Unvoreingenommenheit genommen und er träumt nicht mehr frei.
Daher fände ich es gut, wenn das nächste Album keinen Titel bekäme, keinen Gesang hätte, keine gesprochenen Abschnitte hat, sondern lediglich Musik anbietet. Und die Songs hätten allenfalls nur die chronologische Nummer.
Die Band wird natürlich im Zuge des Entstehungsprozesses der Lieder eine Intention haben, was ausgedrückt werden soll. Hier könnte man die Interaktion mit den Hörern intensivieren, in dem man sie begründet ihre Assoziationen artikulieren lässt und sich darüber austauscht. Das fände ich sehr spannend.

Da ich schon bei Wünsch-Dir-was! bin: Die mir bekannte Diskographie kennt nur männliche Sänger. Wenn denn nach dem zuvor benannten Experiment wieder ein ein "normales" Album ansteht, würde ich mir mal eine Frauenstimme wünschen, die auf einem LDC Album singt. Meine Empfehlung wäre die Niederländerin ANNEKE VAN GIERSBERGEN (THE GATHERING, AGUA DE ANNIQUE, THE GENTLE STORM, VUUR, solo, DEVIN TOWNSEND PROJECT) als Gastsängerin zu gewinnen.

How Do We Want To Live? muss jeder für sich selber beantworten. Gelenkt werden Antworten, wenn die Rezitativa (z. B. im Lied Ashes) den Menschen in seinem Verhalten mit einem Virus gleichsetzt. Er fängt an einer Stelle an, vermehrt sich, beutet Ressourcen aus und macht sich dann zur nächsten Stelle auf mit dem gleichen modus operandi. Oder der Anfang des Albums mit den beiden Curiosity-Liedern. Neugier oder Wissbegier ist meiner Einschätzung nach erstmal positiv konnotiert. Hermeneutisch in die Wortanalyse eintauchend (des deutschen Begriffs...) paaren sich in beiden Worten der negativ aufgeladene Begriff Gier mit den jeweiligen Präfixen. Zwar heißt es als Motiv in beiden Liedern, Neugier sei ein Bastard, jedoch gesprochenen Ausführungen sind für mein Verständnis eher positiv: Antrieb für Veränderung, Frage nach dem Ursprung, die Lust Unbekanntes zu entdecken, auch mal den Standort für eine Bewertung zu wechseln. Es erinnert mich an den Historiker Dan Diner, der in seiner Betrachtung von Sachverhalten mal einen peripheren Standort wählt und von diesem aus anspricht, bewertet und folgert.

Musikalisch hat man im Album die Mischung zwischen Elektro und „handgemachter Mucke“. Dies ist mal Kontrast wie auch Komplement. Im Song Fail/Opportunity ist erstmal das Cello der analoge Vertreter, der in meinen Ohren auch mit (bewusstem) Verspieler beim Glissando aufwartet. Das alles findet im Elektroumfeld statt, in das sich schließlich das „analoge“ Schlagzeug als Kompagnon dazugesellt.

Bei Sharing Thoughts fasziniert mich der Ton und das Volumen des Flügels (?), auch das Cello spielt hier wieder mit. Beyond The Limits sticht heraus als Lied mit Sänger. Nun zum Lied Hazard. Humanoide würde sich selbst genügen und nicht einem Virus gleich entgrenzt Exploitation und Expansion betreiben. Artificial Intelligence (AI) wird systemisch als Gefahr verstanden, wenn es denn einmal wirkmächtig in unseren Datenverarbeitungssysteme wurde und autonom agiert und uns kontrolliert – und irgendwann den externen - menschlichen - Eingriff ausschließt, ggf. sich sogar gegen den Menschen wendet.
Das Lied Human zeigt für mich an einem Detail das, was eine Maschine, nicht mal ein Humanoid kann. Nämlich ungeplant humoristisch reagieren. Vernehme ich da etwa ab 5:03 min eine Kuhglocke? Und schon sehe ich Will Ferrell und Christopher Walken vor mir: „Gimme more cowbell!“ Echte Empfindsamkeit kann nur der Mensch – wenn ihm nicht durch frühkindliche (extreme) Gewalterfahrung biochemisch-physikalische Prozesse diese substantiell genommen wurde. Danke für den Trigger.

Wie wir leben wollen, müssen wir uns selbst beantworten. Die Erzählpassagen –Achtung! Das lyrisches ich sollte nicht als deckungsgleich angesehen werden mit dem Autor– lenken die Meinungsbildung schon.

Das Album aus einem Guss. Perfekt. Der Sound ist top und es macht Spaß, immer wieder in das Album einzutauchen. Für die Musik, die ich konsumiere und Neuveröffentlichungen, die ich 2020 bisher hören konnte, haben LDC die Marke sehr hoch gelegt, so dass ich die Höchstpunktzahl geben werden. Es wird vermutlich mein Album des Jahres werden.

Epilog

Musik an. Augen zu. Sich von LONG DISTANCE CALLING Klangwelten in den Bann ziehen lassen. Davon kommt man erstmal nicht los wegen der Neugier, weitere Details zu entdecken.

Kategorie

V.Ö.

26. Juni 2020

Label

Inside Out Music

Spielzeit

52:45 min

Tracklist

1. Curiosity (Part 1)
2. Curiosity (Part 2)
3. Hazard
4. Voices
5. Fail/Opportunity
6. Immunity
7. Sharing Thoughts
8. Beyond Your Limits
9. True/Negative
10. Ashes

Line Up

David Jordan - Gitarre
Florian Füntmann - Gitarre
Janosch Rathmer - Schlagzeug
Jan Hoffmann - Bass

Eric A. Pulverich - Gesang auf "Beyond Your Limits"

Bewertung

1