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ANATHEMA - Von Spaß mit grinsendem Elefanten und Ärger mit sterbender Braut: Interview mit Vincent Cavanagh (April 2015)

ANATHEMA sind auf einer ganz besonderen Tour. Dieter Thomas Heck hätte wohl gesagt, dass es die Karriere von ANATHEMA an diesen Abenden im umgekehrten Schnelldurchlauf gibt. Von jedem Album gibt es mindestens einen Song und der Schwerpunkt liegt auf dem Material bis einschließlich ´Alternative 4´. Für diese Tour wurden auch Ex-Sänger Darren White und Ex-Bassist Patterson gewonnen. Da war es klar, dass es bei dem Interview mit Vincent Cavanagh auch um die alten Tage ging.

ANATHEMA sind auf einer ganz besonderen Tour. Dieter Thomas Heck hätte wohl gesagt, dass es die Karriere von ANATHEMA an diesen Abenden im umgekehrten Schnelldurchlauf gibt. Von jedem Album gibt es mindestens einen Song und der Schwerpunkt liegt auf dem Material bis einschließlich ´Alternative 4´. Für diese Tour wurden auch Ex-Sänger Darren White und Ex-Bassist Patterson gewonnen. Da war es klar, dass es bei dem Interview mit Vincent Cavanagh auch um die alten Tage ging.

Hi Vincent, zuerst mal Danke, dass du dir kurz vor einem so langen Gig noch Zeit für uns nimmst.

Das mache ich gerne. Um ehrlich zu sein, ist es immer gut, etwas zu tun zu haben.

Viele Bands sagen, dass während einer Tour die schwerste Zeit die ist, in der man nicht auf der Bühne steht.

Das ist normalerweise richtig. Ich habe inzwischen meinen Laptop dabei. Das bedeutet, dass ich arbeiten kann. Ich komponiere die ganze Zeit auf meinem Laptop, wenn ich auf Tour bin. Das ist einfach die beste Möglichkeit, den Tag rumzukriegen. Ich habe es nicht so mit den sozialen Medien und interessiere mich kaum für das Internet. Ab und zu schaue ich mal einen Film, aber das mache ich nur, wenn ich ins Bett gehe. Ich hoffe, dann müde zu werden. Letzte Nacht habe ich den beschissenen Film ´Extraterrestrial´ gesehen. Da kämpfen Außerirdische gegen nervige Teenager, da war ich natürlich für die Außerirdischen (lacht). Was für ein Müll. Nach einer halben Stunde hat es dann gereicht, ich hab den Laptop zugeklappt und bin eingeschlafen. Normalerweise nutze ich den Laptop aber zum Komponieren. Auf dieser Tour nutzen wir erstmals Laptops auf der Bühne für die Keyboardsounds. Ich finde schon Wege, die Zeit nicht zu lang werden zu lassen.

Anathema posterDie Resonance Tour ist etwas Besonderes. Wer hatte die Idee dazu, wurdet ihr vom Roadburn Festival angefragt? Dort habe ich zuerst von dem Gig erfahren.

Die Idee schwirrt in unterschiedlichen Formen schon länger herum. Wir haben schon Gigs mit Duncan und Darren gespielt, aber nie mit beiden zusammen. So etwas wie jetzt gab es noch nie. Roadburn war eine Gelegenheit, zu der wir alle zusammen bekommen konnten. Der Gig beim Roadburn war der erste geplante und der wurde schon vor längerer Zeit gebucht. Das ist etwa ein Jahr her.

Habt ihr die Tour daraus gemacht, weil sich die viele Vorbereitungsarbeit für nur einen Gig nicht lohnen würde?

Nein, das war nicht der Hauptgrund. Es war unser Ziel, dass mehr Leute diese Show sehen können. Es bietet uns die Möglichkeit, diese Show häufiger zu spielen. Die ersten Proben waren sehr seltsam. Ich habe die Riffs seit 20 Jahren nicht mehr gespielt. Ich hab immer gedacht: Scheiße, wie ging das noch?

Also konntest du das nicht mehr auswendig?

Im Groben schon, das ist fast wie eine muskuläre Erinnerung. Das kam schnell zurück. (Jetzt singt er einige Riffs zur Luftgitarre). Ich hab mich gewundert, wie viel immer noch da war. Wir haben einen Song von ´Serenades´ gesucht, den wir mit Darren spielen können. Da kamen wir auf ´Under A Veil (Of Black Lace)´ und dachten: OK, versuchen wir es. Es klappte auf Anhieb. Alle haben sich erinnert und den Song gespielt. Da war klar, dass wir den auf jeden Fall ins Set nehmen. Wir werden auch einiges von ´Pentecost III´ spielen. Wir bauen aber auch neue Versionen von alten Songs ein. Wir haben eine neue Version von ´Kingdom´, die nah an der Version von ´Falllig Deeper´ ist´.

Ich habe im Netz gelesen, dass der dritte Teil des Sets mit den ´Falling Deeper´-Versionen von ´Crestfallen und ´Sleep In Sanity´ beginnt.

Ja, das stimmt, da spielen wir diese Version und dann kommt ´Kingdom´, das wie bei ´Falling Deeper´ beginnt und dann kommt Darren mit seinen Vocals auf die Bühne.

Dann ist das die Brücke zu den alten Sachen.

Ja genau. Es ist die Brücke. Wir nutzen nicht die ´Falling Deeper´ Vocals. Da kommt Darren dazu. Letzte Nacht habe ich ihn angekündigt und dann kommt dieses fette schwere Riff. Wenn du das Riff von ´Kingdom´ analysierst, merkst du, dass es ein verdammtes Rock Riff ist. Es ist nicht wirklich Metal. Es klingt wirklich düster, aber es ist sehr rockig.

anathema pentecostIch finde, dass es auf der ´Pentecost III´ viele sehr rockige Riffs gibt.

Ja, es gibt sogar Sachen, die schon nach Stoner klingen. Bei ´Mine Is Yours´ gibt es bluesige Elemente. Das werden wir heute auch spielen. Es ist schon witzig, als unsere erste Platte draußen war, habe ich das meiner Großmutter vorgespielt. Sie sagte „Vincent, das klingt sehr gut, aber ich glaube, du spielst die Platte in der falschen Geschwindigkeit ab.“ (lacht). Da habe ich gesagt, dass das so klingen soll.

Hatten die ehemaligen Mitglieder eigentlich Einfluss auf die Setlist oder hat das die aktuelle Besetzung entschieden?

Ja, aber wir waren uns eh sehr einig. Wir alle mochten die selben Sachen. Und wir mochten die selben Sachen nicht. Es gab da keine Meinungsverschiedenheiten. Wir leben alle an unterschiedlichen Orten und so haben wir uns vorab per E-Mail abgesprochen. Wir haben einen Vorschlag für die Setlist erarbeitet und den dann an Duncan und Darren geschickt. Sie waren einverstanden. Wir sind alle zufrieden mit der Setlist. Die ist ja auch verdammt lang, wir spielen drei Stunden.

Es ist doch sicher schwer, dass ihr bestimmte Songs weglassen müsst.

Ja schon, aber das muss man machen. Es geht darum, sich nicht zu sehr auf die neuen Sachen zu konzentrieren. Im ersten Set haben wir das Material von sechs Alben. Das sind die Sachen, die beim Publikum am bekanntesten sind. Die Band ist ja schon bekannter geworden.

Also ich kenne die alten Sachen besser.

Ja, vielleicht du und sicher auch einige andere im Publikum, aber generell sind die neuen Sachen bekannter. Das zweite Set besteht aus nur drei Alben, aber das erste aus sechs und beide sind gleich lang, verstehst du? Wir wollten halt mehr Songs aus den Anfangstagen spielen und so haben die größeren Raum. Wir fliegen eigentlich schnell durch die neuen Sachen.

Warst du eigentlich die ganze Zeit mit Darren und Duncan in Kontakt?

Ja schon. Mit Darren weniger, aber es ist immer schön, ihn zu sehen. Duncan sehe ich recht häufig. Duncan ist noch sehr in die Musik involviert. Darren hat eine Familie gegründet. Duncan und Darren haben sich oft gesehen, sie leben beide in Liverpool. Danny, Duncan, Darren, John und Lee haben sich häufiger gesehen, weil sie alle in der selben Stadt leben. Ich wohne in Paris, daher sehe ich niemanden von ihnen so oft wie ich es gern würde. Jamie lebt in Holland.

War es schwer, sie von dem Projekt zu überzeugen?

Nein, nicht wirklich. Es ist eine schöne Möglichkeit, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen und zu zeigen, welche wichtige Rolle sie bei der Entwicklung der Band haben. Die beiden sind und waren auf ihre Art Visionäre. Darren ist ein Poet und eine sehr sensible Seele. Er war erst eher ein Hippie und ist dann ein Punk geworden. Er ist super und einer der nettesten Menschen, den ich je getroffen habe. Duncan ist ein völliger Visionär, das merkt jeder, der sich mit seiner Karriere beschäftigt. Er war schon immer eher ein Einzelgänger, der vieles selbst mit einer DIY-Einstellung macht. Auch er ist ein super Typ. Neben der professionellen Ebene muss man immer bedenken, dass wir zusammen aufgewachsen sind. Wir sind uns immer noch sehr nahe. Wir haben gemerkt, dass niemand ohne die anderen heute hier wäre. Wenn wir uns nicht getroffen hätten und gemacht hätten, was wir haben, würden wir heute nicht das tun, was wir machen. Wir waren Teenager, als wir uns getroffen haben. Ich war 15.

We're Here, Because We were there“, kann man da in Anlehnung an einen Albumtitel sagen. Die beiden waren für mich nicht nur für ANATHEMA, sondern für eine gesamte Musikszene sehr wichtig. Das, was ihr als Teil der „Peaceville Three“ mit PARADISE LOST und MY DING BRIDE gemacht habt, war etwas völlig Neues.

Ja, wir haben etwas begonnen. Wer bei den „Peaceville Three“ immer vergessen wird, sind CATHEDRAL. Die hatten damals einen genau so großen Einfluss auf die Crossover-Doom-Szene wie die anderen. Lee Dorians Vocals bei ´Mourning Of A New Day´ von 1990 haben uns sehr geprägt. Wir hatten bis dahin nicht eine solche Musik gemacht. Es waren PARADISE LOST und CATHEDRAL, die unsere Vorbilder waren. Wir haben dann einen eigenen Stil gefunden, der nicht so bluesig wie CATHEDRAL war und nicht so viele Gothic-Elemente wie PARADISE LOST beinhaltete. Wir hatten eher klassische Einflüsse und mochten schon damals klassische Musik. Es war ein bisschen so, wie auch METALLICA ihre Harmonien gemacht haben. Zu der Zeit haben MY DYING BRIDE eher nach BOLT THROWER geklungen. Sie haben dann von uns abgekupfert und leider ihre Platte zuerst herausgebracht. Der erste Song ist ja ´Sear Me´ und sie erheben da Urheberrechte, aber wir haben zuerst so gespielt, also scheiß auf sie.

Hatte ihr damals persönlichen Kontakt zu Paradiese Lost, es sind ja nur etwa 60 Meilen zwischen euren Heimatstädten?

Wir haben sie selten gesehen. Wenn wir uns getroffen haben, hatten wir immer Spaß. Sie sind alle großartige Typen. Mit MY DYING BRIDE sprechen wir eigentlich nicht.

anathema serenadesUm noch mal auf die Setlist zurückzukommen. Ihr lasst ´Sweet Tears´aus. Dazu gab es ja ein Video, das regelmäßig auf MTV lief. Ich dachte, das wäre für euch der Hit auf ´Serenades´, auch wenn es für mich nicht der beste Song der Platte ist.

Da hast du Recht. ´Sleepless´ hätte die Single sein sollen. Es gab damals die Ansicht, dass ´Sleepless´ zu melodisch ist. Der Chorus von ´Sleepless´ war sehr ungewöhnlich. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass ´Sleepless´ eine bessere Single gewesen wäre.

Na, da sind wir uns einig und obwohl ´Sweet Tears´ die Single war, lief ´Sleepless´ in den Clubs.

Ja, das stimmt und ich glaube, dass ´Sleepless ein noch größerer Hit geworden wäre, wenn wir ein Video dazu gedreht hätten. Das war ein Fehler, von wem auch immer. Daran waren die Band, die Plattenfirma und andere beteiligt. Um ehrlich zu sein, war das Riff von ´Sweet Tears´ zuerst nur ein Joke im Proberaum. Eigentlich wollten wir daraus gar nichts machen, aber wir haben es behalten. So war es ja auch mit ´Paranoid´ von BLACK SABBATH, sie waren zunächst nicht davon überzeugt und es wurde ihr größter Hit.

Wo du ´Sleepless´ angesprochen hast. Es ist ja der letzte Song, den ihr heute spielen werdet. Das passt für mich, weil es nicht nur ein genialer Song ist, sondern auch der Track, der für mich die größte Schnittmenge im Schaffen von ANATHMA hat.

Ja, wir haben schon damals experimentelle Sachen gemacht. Da ist ein Track auf dem Debüt, ´Scars Of The Old Stream´. Da haben wir die Chords entwickelt und ich habe gesagt: „Lasst uns lernen, das rückwärts zu spielen.

Das ist der satanische Weg.

Nicht ganz, denn wir haben es auch rückwärts aufgenommen und das Tape dann richtig abgespielt. Das klang dann etwas anders und sehr gut, also haben wir es behalten.

Dann konntet ihr das ja nie live spielen.

Nein, wir nutzen es als ein Intro.

Oder ihr spielt schnell rückwärts und lasst dann das Tape laufen.

Ja, das wäre wohl die einzige Möglichkeit, aber wir nutzen es nur als ein Intro. Heute spielen wir zwischen Set 2 und 3 ´Dreaming The Romance´, das ja fast 23 Minuten lang ist. Was ich meine ist, dass wir auch schon in den Anfangstagen experimentiert haben. Das war eine gute Einstellung um zu wachsen und sich als Band weiterzuentwickeln. Schon am Anfang war uns klar, dass wir das, was wir gerade machen, hinter uns lassen werden. Wir wussten, dass wir andere Dinge machen werden. Das ging uns schon bei ´Pentecost III´ so. Es gab ein neues Genre, das jetzt jeder kannte und wir wollten das hinter uns lassen.

Könntest du dir vorstellen in einer Band wie AC/DC, den RAMONES oder MOTÖRHEAD zu spielen, die ja nur marginale Veränderungen an ihren Sounds vornehmen?

Ja schon, aber dann musst du zu Beginn einen großen Hit haben. Sich weiterzuentwickeln ist die einzige Möglichkeit für einen Künstler, frei zu bleiben. Wenn du wie AC/DC einen großen Hit hattest, bist du zufrieden. Das ist es doch, was man will. Du gibst den Fans was sie wollen und du gibst das, was du gut kannst. Ich will nicht, dass AC/DC ihren Sound ändern. Das gilt auch für modernere Bands wie THE HIVES: Ich möchte, dass sie THE HIVES sind. Bei RADIOHEAD ist das anders: Ich will nicht ´OK Computer Part 2´. Ich möchte etwas komplett anderes, wenn ich die Band höre. Und das Gleiche gilt für ANATHEMA.

Das heißt, Du unterscheidest da nicht generell, sondern nach Bands?

Ja, manche Bands versuchen das. Sie haben sich in einer bestimmten Ecke positioniert, denn sie haben vier oder fünf Alben lang gleich geklungen. Die Fans akzeptieren das nicht und die Band kehrt zu den alten Sounds zurück. Dann sagen sie OK, das ist, wo für uns Brot und Butter sind und wir machen das weiter. Für Bands wie RADIOHEAD, ANATHEMA oder Personen wie Steven Wilson gilt das nicht, die haben sich immer entwickelt. Da gab es zwischen den Alben keinen Stillstand. Bei diesen Bands bist du enttäuscht, wenn ein Album wie das vorherige klingt. Das wird und ist nie mit uns, RADIOHEAD oder Steven Wilson, PINK FLOYD oder den BEATLES geschehen. Das ist die Einstellung um die es geht, wenn wir von „Progressive Music“ sprechen. Ich mag diesen Begriff nicht als Bezeichnung für ein Genre, aber ich mag es als ein Ethos, eine Einstellung. Denn auch die Beatles waren progressiv.

Progressiv zu sein beschränkt sich heute für mich zu sehr auf die musikalischen Fähigkeiten.

Ja und es ist mehr als ein Genre aus den Siebzigern. Bei der Musik geht es doch um Bewegung und nur technische Dinge bewegen uns nicht. Danny ist ein hervorragender Gitarrist, der mit allen Leuten spielen könnte. Aber er will das nicht. Er will nicht der beste Gitarrist sein. Er will Songs schreiben.

Ich möchte die Gelegenheit nutzen, um mal über vergangene Tage zu sprechen. Ich habe euch auf dem Dynamo 1995 getroffen und ihr ward eine Horde angetrunkener Jungs, die gelacht und gekickt haben. Das hat mich eher an Punkrock erinnert. Hat sich eure Stimmung schlagartig geändert, wenn ihr den Proberaum betreten habt?

Ja, wir waren 1995 auf den Dynamo, 1996 haben wir dann auch gespielt. 1995 waren wir auf Acid. Im Grunde waren wir damals kleine Punks und die Musik, die wir spielten, war komplett anders. Da hast du absolut Recht. Wir waren 1996 mal mit den legendären TROUBLE in Deutschland auf Tour. Wir haben jeden Abend Alkohol, Cannabis und anderes zu uns genommen und mit ihnen hinten im Bus BEATLES Songs gespielt. Zum Ende der Tour haben sie dann gesagt: „Jungs, wir müssen euch mal was fragen: Abseits der Bühne seid ihr diese fröhlichen Jungs, die BEATLES und PINK FLOYD Songs lieben. Dann geht ihr auf die Bühne und macht das. Warum tut ihr das?“ Ich habe nur geantwortet: „Ich weiß es nicht. Das ist einfach was wir machen, was aus uns heraus kommt.“

Es war damals nicht euer Ziel, möglichst düster und langsam zu klingen? Bei euch gibt es ja von Beginn an diese schönen Melodien, die verhindern, dass es depressiv klingt.

Du hast Recht, es war immer melodisch. Wir haben unsere Musik immer ernst genommen. Aber wir waren keine ernsthaften Leute. Das Wochenende auf dem Dynamo, das du angesprochen hast, ist ein Beispiel dafür. Warum auch immer gab es Backstage einen Elefanten. Wir haben den immer am Knie gestreichelt und dann hat er gelächelt. Wir sind vor Lachen umgefallen und niemand wusste warum. Wir hatten einen Riesenspaß. Es ist doch so, dass du als Heranwachsender ein Schild um dich trägst. Als Teenager bist du doch immer auch ein Macho. Vielleicht liegt es daran. Wir zeigen in Texten und Musik Emotionen; wenn wir die in anderen Zusammenhängen gezeigt hätten, wäre uns das als Schwäche ausgelegt worden. Wenn du, wie wir, aus Nordengland kommst und ein Kerl bist, sprichst du einfach nicht über solche Themen. Mit zunehmender Lebenserfahrung lernt man, diese Schilder des Heranwachsens wegzulegen.

Für mich war es zu der Zeit für eine Band wie euch sehr mutig, einen Song wie ´Everwake´ zu machen. Ich erinnere mich, den Song zigmal im Auto mit Leuten gehört zu haben, die sich sonst nur CANNIBAL CORPSE geben.

Wir haben nie Musik für andere Leute gemacht. Wir haben nie Musik für die Fans gemacht. Eigentlich wollten wir auch keinen Plattenvertrag. Wir haben einfach Musik gemacht, der Rest ist passiert, weil wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren. Sie kamen auf uns zu und es hieß: Ihr könnt ein Album machen, also haben wir ein Album gemacht. Dann konnten wir eine Tour machen und wir haben gesagt: großartig, das machen wir. So lief das, das war unsere Einstellung.

Ihr ward damals sehr von euch überzeugt.

Absolut. Wir waren zu 100 Prozent von uns überzeugt. Wir richten uns nicht nach anderen. Wenn ich es jemandem gestatte, in meinen Kopf zu gelangen, dann ist es nicht mehr meine Idee und ich will so etwas dann nicht machen.

Für mich sind solche Sachen dann nicht mehr so intensiv.

Ja, und sie sind nicht mehr so ehrlich. Wenn du ehrlich bist, bist du auch intensiv. Intensiv ist für mich nicht Death Metal, sondern ´The Wall´ von PINK FLOYD. Hör dir das an und dann CANNIBAL CORPSE und sag mir, was intensiver ist. ´Hammer Smashed Face´ ist doch ein verdammter Cartoon. Das ist wie ein Horrorfilm und interessiert mich nicht. Lies das Buch ´Shining´ und dann ´Hostel´. Das ist doch kein Vergleich. Intensität hat nichts mit Brutalität zu tun.

Noch mal zu ´Everwake´. Wird es jemals die Möglichkeit geben, den Song mit Ruth live zu hören? Nichts gegen Anneke, aber mir gefällt das Original wesentlich besser.

Mit Ruth Wilson? Sie war 15 Jahre alt, als sie das gesungen hat. Ich habe sie lange nicht getroffen. Seit den Aufnahmen habe ich sie nur einmal gesehen. Wir sind nicht in Kontakt, ich hab gar keine Ahnung, was sie heute macht. Aber vielleicht klappt das mal. Ich glaube, sie hat nicht weiter Musik gemacht. Sie hat eine wunderschöne Stimme. Sie hat eine Zwillingsschwester, Rebecca, die auf der zweiten Platte gesungen hat.

Ach das war die Zwillingsschwester bei ´J'ai fait une promesse´? Ich dachte das war auch sie.

Nein, das war ihre Zwillingsschwester.

Na, eine von ihnen wird schon Zeit finden.

Eine oder vielleicht beide, es wäre sicher schön.

anathema ticketIch will noch mal zurück zur Einstellung: Auf der ´Serenades´ Tour habe ich Euch gesehen und ihr habt vor dem letzten Song gesagt, dass ihr die Leute nicht in dieser Stimmung gehen lassen wollt und habt einen punkigen Song zum Abschluss gespielt. Den kannte ich damals nicht. Was war das?

Das war unser Song ´666´.

Das war da aber noch nicht veröffentlicht, oder?

Es gibt davon einige Versionen, die vielleicht irgendwo zu finden sind, ja wir haben das bei den Gigs gespielt. Es hing immer vom Publikum ab, ob wir den gespielt haben; wenn sie müde waren, hat sich das angeboten.

Diese Tour war ja sowieso der Hammer. Ihr wurdet von CRADLE OF FILTH und AT THE GATES supportet und COF hatten noch nicht mal ein Album veröffentlicht.

Ja, wir haben sie eingeladen.

Bei den Metal Archives habe ich gelesen, dass Darren bei ihren ersten drei Demos Schlagzeug gespielt hat, das wusste ich gar nicht. Kam die Connection daher?

Nein, das stimmt nicht. Wir mochten sie einfach als Typen. Wir kannten ihren alten Drummer Nicolas Barker.

Dann hat Darren da nicht gespielt?

Nein, er hat noch nie Schlagzeug gespielt. Stimmt, das war jemand anders, der hieß Warren White oder so, nicht Darren White. Das ist ein Fehler bei den Metal Archives. Man muss ja auch nur einen Buchstaben ändern und dann stimmt es wieder. Wir haben schon mit der COF Vorgängerband MAUSOLEUM gespielt, sie kamen aus der Nähe und wir hatten Spaß mit ihnen. Wir hatten viel Spaß auf Tour. Wir kommen alle aus sehr armen Familien, die sich nicht einmal Urlaube leisten konnten. Wir hatten Liverpool eigentlich nie verlassen. Einmal waren wir bei dem Cousin meines Vaters, der 90 Meilen entfernt wohnte. Weiter war ich nie gereist.

Ist das ein Grund, aus dem du das Touren mehr genießt als andere.

Ja absolut. Wenn du mit 17/18 Jahren durch Europa tourst und überall die Clubs und Mädchen siehst, ist das großartig.

Ist die Möglichkeit so zu reisen für dich immer noch etwas, was du als nicht selbstverständlich ansiehst?

Ich habe eine Freundin und trinke nicht mehr, aber ich habe verdammt viel Spaß am Touren. Ich genieße das Touren so mehr. Ich habe gut geschlafen und bin heute ohne Hangover aufgewacht. Da war ich schon froh, dass ich auf Tour nicht mehr trinke. Ich weiß noch genau wie es ist, morgens aufzuwachen und zu denken: Verdammt, ich kann nicht mehr singen. Ich hab es natürlich immer gemacht, aber das Gefühl ist scheiße. Noel und Liam Gallagher wurden mal interviewt und gefragt: "Was macht es für dich aus, ein Rockstar zu sein?" Und Liam ext seinen vollen Gin Tonic und sagt: "DAS ist es, ein Rockstar zu sein." Und dann fingen sie an zu streiten und Noel sagte: "Das ist nicht, ein Rockstar zu sein. Das ist, ein Arschloch zu sein. Ein Rockstar zu sein, bedeutet jeden Abend voll auf der Höhe zu sein, rauszugehen vor eine ausverkaufte Menge und sie wegzublasen. Das ist ein Rockstar!" Und er hat 100% Recht!

Lemmy hat ja mal gesagt, dass der Kater ein Problem von Leuten ist, die nüchtern werden. Das hätte er nicht.

Ja der ist ja auch eine verdammte Maschine. Er ist wie ein Motorrad, da musst du der Maschine auch Benzin geben, sonst läuft sie nicht. Der ist wirklich anders als ich.

Zurück in der Geschichte. War es denn eigentlich sehr hart für euch, als Darren ausgestiegen ist? Du hast gesagt, er ist ein Poet und er hatte bis dahin nicht nur gesungen, sondern auch alle Texte geschrieben.

Ja total. Wir waren im Studio als er ausstieg.

Anathema The Silent EnigmaDa habt ihr ´The Silent Enigma´ aufgenommen´?

Ja genau, wir sind damals ins Studio gegangen und hatten nichts vorbereitet. Es gab weder Songs noch Texte. Wir hatten absolut nichts; wir waren davor auf Tour.

Das kann aber teuer werden.

Nein, wir hatten ein Budget der Plattenfirma und haben alles innerhalb von 10 Tagen aufgenommen.

Dann habt ihr das in der Zeit nicht nur aufgenommen, sondern auch geschrieben?

Genau, wir hatten nichts außer einigen Riffs. Wir haben dann alles aufgenommen und zu Darren gesagt „OK, jetzt bist du dran, sing die Vocals ein“. Er sagte, dass er das nicht kann. Da haben wir uns gefragt, was wir machen können. Ich wurde dann für den Posten des Sängers nominiert. Ich wollte diesen Posten nicht. Als Gitarrist habe ich mich wohl gefühlt, die Aufmerksamkeit wollte ich nicht. Ich mochte es erstmals bei ´Alternative 4´, ein Sänger zu sein. Da habe ich gemerkt, was ich als Sänger machen kann. Bei ´Eternity´ und ´The Silent Enigma´ habe ich noch versucht herauszufinden, was ich machen muss, um ein Bein auf den Boden zu bekommen. Eigentlich hätte das schon bei ´Eternity´ klappen können. Das Problem war, dass wir da noch zu tief gespielt haben. Wir haben auf das tiefe B heruntergestimmt. Bei ‚Alternative 4´ haben wir dann wieder auf E gestimmt. Wenn wir das schon bei ´Eternity´ gemacht hätten, wäre es eine viel bessere Platte geworden, denn das entspricht meiner natürlichen Stimmlage.

Ich mag ´Eternity´ so wie sie klingt, sehr gern.

Ja, es wäre eine andere Platte geworden. Ich denke, sie wäre besser. Klar, es wären dieselben Songs, aber sie würden besser klingen.

Habt ihr mal daran gedacht, die Platte neu aufzunehmen?

Nein, aber wir machen es live jetzt anders. Wir stimmen die Gitarren nicht für diese Songs runter; sie klingen so, wie sie sollten. Der für uns natürliche Sound ist das Es, nicht das normale E. Wir spielen die ´Eternity´ Songs in Es und sie klingen viel besser. Sie klingen so intensiv wie damals, aber wir haben ihnen mehr Leben eingehaucht.

Ist eigentlich geplant, von dieser besonderen Tour eine Live-CD oder -DVD zu veröffentlichen?

Nein, denn es wird eine DVD von den Akustik-Konzerten geben, die wir gerade in Kirchen gespielt haben. Es gibt keine bestimmten Pläne, da etwas von der Resonance-Tour zu veröffentlichen.

Es gibt auf dieser Tour nur wenige Gigs. Vor dem Interview hast Du gesagt, dass ihr gerade aus der Tschechischen Republik kommt. Es gab auch Konzerte in Polen und Ungarn. Habt ihr in Osteuropa eine besondere Fanbase?

Wir spielen ja auch noch Paris, Holland und London. Leider mussten wir einige auslassen. Wir hätten beispielsweise gern in Griechenland gespielt. Wir haben da viele Fans. Wir hätten mit dieser Tour auch nach Südamerika gehen sollen. Zu diesem Zeitpunkt gibt es keine Pläne, die Tour zu verlängern. Ich bin dafür offen; wenn du mich fragen würdest, würde ich zusagen. Es wird einfach schwierig, wenn man fliegen muss. Wir sind jetzt inklusive Crew mit 15 Leuten unterwegs. Wir könnten das auf 12 - 13 reduzieren, aber wenn die alle fliegen müssen, lohnt es sich leider nicht, für einen Gig nach Griechenland zu kommen.

Ihr könntet ja IRON MAIDEN fragen, ob ihr das Flugzeug bekommt.

Ich glaube, Bruce hat momentan größere Probleme als darüber nachzudenken, uns um die Welt zu fliegen.

Das stimmt wohl. Einige eurer Platte wurden ja auf Vinyl wiederveröffentlicht, habt ihr da eigentlich Mitspracherecht?

Ja, Danny war beim Remastering beteiligt.

Ich finde es schade, dass es bei den Preisen zum Beispiel bei der ´Crestfallen EP´ trotz des stattlichen Preises nicht mal ein bedrucktes Inner Sleeve gibt.

Ach, die Plattenfirmen bauen immer Mist. Es gibt eine Wiederveröffentlichung von ´The Silent Enigma´, sie bauen immer Scheiße und ändern Texte und Songtitel. Wir haben auf dem Album einen Song ´Sunset Of Age´ und sie haben es in ´Sunset Of The Age´ umbenannt. Denken die, wir wussten nicht, was wir taten, als wir den verdammten Song und den Text geschrieben haben? „Oh, ihr meintet sicher ´Sunset Of The Age´“, also nennen wir es so. So ein Scheiß, das versaut das komplette Konzept des Songs. Mann, da platzt mir der Kragen.

Dann war die Interviewzeit leider abrupt um und Vincent beruhigte sich schnell wieder. Es folgte ein wirklich besonderer Gig der Band, Genaueres findet ihr in unserem Live-Review.

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Infos

  • Erstellt am

    29. April 2015
  • Line Up

  • Redakteur

    Tobias Trillmich
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