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„Simple Talk“ – Seraina Telli im Interview

Bunt, aber nicht schrill, kreativ, umtriebig und ganz nebenbei eine der stärksten Stimmen der Gegenwart in der europäischen Rockszene: SERAINA TELLI. Dem Metal Publikum ist sie als ehemalige Frontfrau von BURNING WITCHES in Erinnerung, den Prog-Rockern als Teil des Trios DEAD VENUS. Anlässlich ihres 2022 erschienenen Soloalbums „Simple Talk“ habe ich mich aufgemacht in die Studentenstadt Göttingen, wo sich Seraina im November 22 für ihre Tour mit CORELEONI warm spielte.
„Ich würde schon sagen, dass ich ein bunter Vogel bin“, gibt Seraina zu. „Ich habe allerdings auch sehr viele schwarze Kleider zuhause und laufe im Alltag häufig schwarz gekleidet herum. Ich mag aber bunte Haare, Make-Up und solche Sachen. Und ich präsentiere mich öffentlich schon so wie ich bin. Es würde ja keinen Sinn machen, sich nur für das Plattencover usw. zu verstellen.“
Vielleicht muss man tatsächlich etwas hyperaktiv sein, so wie sich Seraina selbst beschreibt, um die geballte Kreativität irgendwie rauslassen zu können. Denn Seraina singt nicht nur, sie spielt auch verschiedene Instrumente, malt, fährt Motorrad, gibt Musikunterricht – mehr Aktivitäten als in einen normalen Tag zu passen scheinen.
„Ich bin eigentlich Tag und Nacht mit Musik beschäftigt und tue irgendetwas, was mit Musik zu tun hat. Manchmal mache ich mehr Musik, manchmal weniger, denn es gibt auch so viele Dinge, die drumherum zu tun sind. Ich bin aber auch einfach sehr vielseitig interessiert.“
Entsprechend viel Mitsprache hatte Seraina auch bei der Umsetzung ihres Soloalbums, für das sie die Musik geschrieben hat, aber auch bei der sonstigen Gestaltung federführend war. Unterstützung gibt es von Seiten des Managements, einer Booking Agentur und dem Label Metalville. „Die sind letztlich auf mich zugekommen, weil ihnen gefällt, was ich mache und wie ich aussehe“, erklärt die Schweizerin. „Mir gefällt total gut an meinem Team, dass ich total gefördert werde und dass geschaut wird, wie man das was ich mache am besten rüberbringen kann. Ich habe nie das Gefühl, dass ich mich verstellen muss oder etwas tun soll, was ich nicht tun möchte. Es macht einen Künstler aus, dass er sich nicht verstellen und verbiegen muss. Man merkt doch immer, wenn versucht wurde, einen Song noch extra catchy zu machen.“
Eine Erfahrung, die viele Bands in ihrer Karriere machen mussten. Mir kommen da neben ACCEPT auch GRAVE DIGGER in den Sinn, die sich als DIGGER ja auch mal am Hard Rock versuchten und daran kolossal scheiterten. „Es gibt schon Leute, die sowas können und es dann auch gut machen“, sagt Seraina. „Aber grundsätzlich ist es schon wichtig, dass Künstler authentisch sind.“
Eine Künstlerin, die tatsächlich auch authentisch ist und ihre größten Erfolge in den 80ern und 90ern feierte, ist Melissa Etheridge. Die Amerikanerin wurde nicht nur von mir in der Rezension von „Simple Talk“ als musikalische und stimmliche Vergleichsgröße herangezogen. „Es ist sehr spannend, dass ihr das findet“, holt die Sängerin aus. „Ich habe beim Songwriting irgendwann selber an sie gedacht und fand, dass die Songs nach ihr klingen. Ich kann aber nicht sagen, dass sie mich irgendwie beeinflusst hat. Ich muss aber sagen, dass sie mich als Teenagerin beeinflusst hat, selber etwas zu machen. Sie hatte damals den Song „The Way I Do“ draußen und den fand ich schon ziemlich faszinierend. Da stand plötzlich diese Frau mit dieser Mega-Stimme und sie spielte auch noch Gitarre. Das hat mich schon inspiriert."
Während der Name Melissa Etheridge mehrfach in Rezensionen zum Album auftauchte, wurden die Texte im Grunde gar nicht von den Rezensenten in den Blick genommen. Erstaunlich, denn es lohnt sich durchaus die Lyrics mal durchzulesen. Man bekommt dann schnell den Eindruck, dass es sich um ein sehr persönliches, fast intimes Album handelt. „Das ist es auf jeden Fall“, stimmt Seraina mir zu. „Eigentlich ist mein Solo-Projekt oder besser meine Solo-Band durch einen Zufall entstanden. Ich sollte einen Song für eine Kollaboration schreiben und war total im Workflow und hab den kompletten Song inklusive Text in 30 Minuten geschrieben. Daraufhin meinten mein Management und die andere Band, dass das total mein Ding sei und ich doch einfach mehr solche Songs schreiben solle. Irgendwie ist diese, im Vergleich zu meiner Prog Band DEAD VENUS einfache Musik eine Art Befreiungsschlag für mich. Ich habe schon immer sehr tiefgründige Texte geschrieben, die aus meiner Perspektive erzählen. Ich finde es total wichtig, denn ich glaube, dass viele Menschen dieselben Sorgen oder Probleme haben und dann einen starken Bezug zu meinen Texten aufbauen können. Und das ist mir sehr, sehr wichtig. Ich schreibe eigentlich zu 60% wegen der Message, denn ich möchte etwas mitteilen, ich möchte bewegen und ich möchte etwas verändern. Das ist ein wichtiger Bestandteil meiner Musik.“
Ein interessantes Phänomen, denn in der Öffentlichkeit und auf der Bühne kommt Seraina eher flippig, extrovertiert und selbstsicher rüber, während in den Texten Ängste und Verletzlichkeit offenbar werden. „Ich denke, dass es so sehr vielen Leuten geht. Ich unterrichte ja auch und sehe, dass vielen Menschen das Selbstbewusstsein fehlt, oder dass man Angst hat zu sagen, was man denkt. Solche Dinge müssen vielleicht nicht unbedingt an die Öffentlichkeit, aber es hilft vielleicht, wenn man dann so einen Text hört. Mir hat das als Teenagerin sehr geholfen. Leider scheint es im Metal und Rock oft nicht so sehr um die Texte zu gehen, sondern es geht eher um die Stimmung.“
Interessant ist diese Aussage mit Blick auf die Tour im Vorprogramm von CORELEONIE insofern, als dass diese ja aus GOTTHARD hervorgegangen sind und die Schweizer Hard Rocker sich bereits im Namen weniger auf den Hildesheimer Heiligen St. Godehard beziehen, als vielmehr auf ein erigiertes Geschlechtsteil. „Ich nehme das natürlich nicht wirklich ernst“, lacht Seraina. „Ich muss mal checken, was CORELEONIE überhaupt für Texte haben. Ich muss aber sagen, dass ich mich in Gegenwart von irgendwelchen Rockern nie abgewertet gefühlt habe. Guck dir STEEL PANTHER an. Die haben ja auch solche Texte, aber es ist natürlich klar, dass die das nicht wirklich ernst nehmen. Und ich finde, dass man als selbstbewusste Frau auch über solche Dinge lachen kann.“
Stichwort selbstbewusst. Serainas ehemalige BURNING WITCHES-Weggefährtin SONIA „ANUBIS“ NUSSFELDER startet ja mittlerweile mit ihrer Glam Metal Band COBRA SPELL durch. Dabei geht es nicht nur musikalisch in die 80er Jahre, sondern in Sachen Kleidung wird viel nackte Haut gezeigt und der Rest von Lack und Leder bedeckt. Ein Ausdruck der Emanzipation junger, selbstbewusster Frauen?
„Das ist ein sehr wichtiges Thema, auch für mich“, meint die Sängerin. „Ich verurteile da niemanden. Wenn ich auf Social Media unterwegs bin, merke ich schon, dass es oftmals vor allem um den Körper geht. Was mir wichtig ist, ist, dass Leute meine Musik hören. Dabei ist es mir gar nicht so wichtig, dass ich nun eine Frau bin, oder dass ich Frauen in der Band habe. Ich wollte eine Frau in meiner Band haben, um die Idee des „Girl Power“ irgendwie zu zeigen. Aber wenn ich mir meine Social Media Statistik angucke, dann ist das wirklich ernüchternd, denn meine Hörer sind nicht einmal 20% Frauen. Ich habe jetzt angefangen aktiv um Frauen zu werben. Es gibt so viele Frauen, die Rock oder Metal hören und die möchte ich auch ansprechen. Ich denke, dass, wenn man sich zu sehr auf den Körper bezieht, man wohl doch eher Männer anzieht. Das ist ein Fakt und ich möchte es eben lieber über die Musik machen. Die Kommentare die ich bekomme, beziehen sich immer nur auf meine Musik und das finde ich wichtig.“
Nun muss man auch zugeben, dass sich die meisten Vertreter des männlichen Geschlechts mit Blick auf ihre Kommentare in den sozialen Medien auch nicht gerade als Aushängeschild der menschlichen Spezies hervortun. Der überwiegende Teil der Kommentare zu weiblichen Musikerinnen ist einfach nur peinlich. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass junge Frauen für sexy Outfits gefeiert werden, während etwas reifere Modelle dann schnell unfreundliche Kommentare bekommen.
„Ich glaube gar nicht, dass es eine Frage des Alters ist. Es ist ja auch eine Frage des Selbstrespekts gegenüber sich selbst.“
Und daran möchte ich gleich anknüpfen, denn der Song „Dreamer“ handelt offenbar davon, die eigenen Träume zu verfolgen und sich auf die eigenen Stärken zu konzentrieren. Möglicherweise auch eine Aufarbeitung der Trennung von BURNING WITCHES?
„Die Trennung von BURNING WITCHES hatte eigentlich gar nichts mit der Band oder den Leuten zu tun“, erklärt Seraina. „Ich habe mich einfach entwickelt und die Entwicklung der Band passte dann nicht mehr zu mir. Wir haben ja eben darüber gesprochen, dass es dann um das Optische geht und ich habe mich nie als die coole Metal-Schnitte gefühlt. Das ist natürlich alles cool und die Zeit bei BURNING WITCHES war eine tolle Zeit, die ich auch nicht missen möchte. „Dreamer“ hat aber tatsächlich gar nichts mit der Trennung von der Band zu tun. Der Text dreht sich eher darum, wie ich Musik sehe. Es geht nicht immer alles nur um Geld und ich empfinde Leute als glücklicher, die auch Träume und Ideen haben und die auf etwas hinarbeiten. Das ist das, was ich auch sein möchte.“
Da sieht man aber auch, was einen guten Text ausmacht: er ist offen für eine Vielzahl von Interpretationen. „Es ist total spannend,“ freut sich Seraina, „wie die Leute Texte interpretieren. Es ist total unterschiedlich, aber das ist natürlich auch ein wenig die Idee dahinter.“
Die Beziehung zu den ehemaligen Mitstreiterinnen bei BURNING WITCHES hat sich seit der Trennung etwas abgekühlt und Seraina verfolgt die Karriere der Band nicht aktiv. Aus dem Lager der Hexen war seinerzeit zu hören, dass man sich neue Bandmitglieder nach dem Ausstieg von Sonia genauer ansehen wolle, um Trittbrettfahrer zu vermeiden, die die Band vor allem als ein Sprungbrett für die eigene Karriere nutzen wollen. „Ich finde es bei einer Trennung immer wichtig, dass man versucht die Emotionen wegzulassent, denn es geh die Leute nichts an. Natürlich gibt es immer persönliche Hintergründe,“ erklärt die ehemalige Fronthexe, „aber das hat nichts mit der Musik zu tun.“
Dennoch war die damalige Tour mit GRAVE DIGGER sicherlich eine prägende Erfahrung für alle Beteiligten. „Es war meine erste Tour mit Nightliner. Insofern habe ich da natürlich auch sehr viel mitgenommen. Ich kann jetzt nicht eine spezielle Sache nennen, die ich auf der Tour gelernt hätte, aber es war insgesamt alles sehr lehrreich. GRAVE DIGGER waren auch sehr nett und ich bereue nichts.“
Doch zurück zu Serainas Musik. Bei unserem letzten Gespräch hatten wir uns über musikalische Einflüsse unterhalten und dabei ging es um Bands wie IRON MAIDEN, JUDAS PRIEST & Co. Diese Einflüsse standen bei „Simple Talk“ offenbar nicht so im Vordergrund. „Ich mache einfach meine Musik,“ erklärt SERAINA. „Meine Musik ist vom Metal bzw. meiner Liebe zum Metal beeinflusst. Es macht mir einfach Spaß diese Musik zu hören oder auch Songs zu singen. Ich bin in letzter Zeit allerdings nicht mehr dazu gekommen neue Coverstücke für meinen YouTube-Kanal aufzunehmen.“ Ein Metal-Projekt steht demnach momentan nicht an: „Es ist mir gerade wichtig, dass man sich auf eine Sache fokussiert und ich habe auch ziemlich bei mir aufgeräumt. Ich bin jetzt voll an meinem Solo-Projekt dran und mache DEAD VENUS ja auch noch nebenbei. Ich bin aber natürlich auch immer offen für andere Sachen.“
Die Konzentration auf die Solo-Karriere scheint sich bezahlt zu machen, denn in der Schweiz kletterte „Simple Talk“ gleich auf Platz 2 der Charts. Natürlich bitte ich SERAINA um eine Einordnung. „Das ist schon ein gutes Ding und zeigt, dass wir in der Schweiz einige Alben verkauft haben. Ich kann nicht sagen, wie viele Alben wir da genau verkauft haben. TAYLOR SWIFT konnte ich am Ende jedenfalls nicht schlagen – aber das waren mehr die Streamings.“
Natürlich sind Streams heutzutage für die Reichweite der Künstler unverzichtbar, für den Geldbeutel bringen sie ja bekanntlich nicht so viel. SERAINA TELLIs Debüt gibt es aber auch ganz klassisch als CD und sogar auf Vinyl. „Es war für alle klar, dass es eine Vinyl-Version geben würde,“ erzählt die Schweizerin. „Wir haben nur über die Farbe gesprochen. Ich finde, dass diese Formate zu der Art von Musik dazugehören. Aber natürlich sind Streaming-Plattformen auch wichtig und mir war es wichtig, dass wir uns überall positionieren. Es ist natürlich jedem klar wie Spotify & Co aufgebaut sind und da geht es nicht in erster Linie darum, dass man dort etwas verdient. Ich sehe es letztlich als Gratis-Werbung und es ist einfach ein gutes Tool, damit Leute meine Musik entdecken können.“
Und in der Rock- und Metalszene tendieren die Fans ja auch nach wie vor dazu physische Tonträger zu kaufen, auch wenn sie die Mucke bei den Streaming-Plattformen hören können. Zumal das Rockpublikum eher älteren Semesters ist, wie sich auch bei der Show in Göttingen zeigte. Studierende verirren sich leider eher selten zu dieser Art von Show. Seltsam eigentlich. „Ich habe das in den Statistiken gesehen, dass es eher ältere Leute sind, die diese Art von Musik hören. Als Teenager hat man wohl andere Dinge zu tun und dann geht das vielleicht etwas an denen vorbei. Ich habe auch erst später angefangen Musik zu suchen, die mir wirklich gefällt. So bin ich dann auf Prog und Metal gekommen. Als 90er Kind habe ich früher nur das Radio angemacht und dann eben die Pop Musik gehört, die dort lief. BACKSTREET BOYS waren nicht mein Ding, ich habe gerne MARYLIN MANSON und HIM gehört. DISTURBED waren meine erste Metal-Liebe.“
Und jetzt liegt es an euch, liebe Leserinnen und Leser: Es gibt viel zu entdecken und SERAINA TELLIs Debüt „Simple Talk“ gehört definitiv dazu. Ab Ende der Woche ist Seraina auch wieder live in Deutschland zu sehen. Die Tourdaten findet ihr auf ihrer Website.

Bild Copyright:
Thorsten Zwingelberg

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